
30 Jahre Herzenslust
30 Jahre gut vernetzt und kommuniziert
Seit 30 Jahren ist Herzenslust das Markenzeichen für HIV/Aids- und STI-Prävention in der schwulen Community in NRW und weit darüber hinaus. Wie entstand dieses erfolgreiche Konzept, was waren und was sind die Herausforderungen, denen sich die Akteure von Herzenslust stellen? Darüber sprachen wir mit Reinhard Klenke, Oliver Schubert, Marcel Dams und Patrick Orth, die Herzenslust in den zurückliegenden drei Jahrzehnten auf Landesebene koordiniert haben.
Reinhard, du hast Herzenslust mit einigen Mitstreitern vor 30 Jahren aus der Taufe gehoben. Wie ist es damals dazu gekommen?
Reinhard: Auf dem Höhepunkt der „Aidskrise“ in den 90er Jahren waren gerade einmal zehn Prozent der Mitarbeiter in Aidshilfen mit HIV-Prävention beschäftigt. Die anderen waren mit der Betreuung von Aidskranken und mit Sterbebegleitung voll ausgelastet. So viele sind damals gestorben! Auf der Szene lastete eine Schwere, so dass manche Kneipenwirte und Saunabetreiber nicht wussten, wie sie sich halten konnten. In dieser Situation wollten wir die Szene stärken und neue Netzwerke knüpfen. 1991 gründeten wir das damals Schwule, das heutige Queere Netzwerk NRW. Das Land startete das Youthwork-Programm und wir in der Aidshilfe NRW planten, alte Strukturen wiederzubeleben und neue zu finden, um der schwulen Prävention neuen Schwung zu geben.
Das habt ihr aber nicht allein geschafft?
Reinhard: Nein, wir haben uns überlegt, ein buntes Spektrum von Leuten aus der Szene zusammenzubringen, vom Stricher bis zum Szenewirt, vom Saunabesitzer bis zum Politiker, von Tunten bis zu Lederkerlen, Leute, von denen wir dachten, dass sie etwas beitragen können, wenn wir über Prävention in schwulen Lebenszusammenhängen sprechen. Ein Ergebnis des Runden Tisches, zu dem wir eingeladen hatten, war die Empfehlung, eine Kampagne für Schwule zu entwickeln, die fröhlich daherkommt und Sexualität positiv darstellt. Viele hatten aus Angst vor Ansteckung und Ausgrenzung wenig oder keinen Sex. Das Land hat uns tatsächlich Geld zur Verfügung gestellt, mit dem wir eine Agentur beauftragen konnten, mit uns die Kampagne zu entwickeln. Diese stellten wir bei einem weiteren Runden Tisch vor, den wir heute als die Geburtsstunde von Herzenslust bezeichnen.
Wie sah damals denn Primärprävention aus?
Reinhard: Was heute so selbstverständlich klingt, Kondome zu verteilen, war damals politisch umstritten. Einige in Düsseldorf meinten, man könne doch nicht „unmoralische Handlungen“ unterstützen, also wurden Kondome zunächst nicht finanziert. Das war für uns der erste Schritt, Kondome in die Kampagne zu integrieren, damit die Kollegen vor Ort sich darauf konzentrieren konnten, Gesundheit zu erhalten und Leben zu retten. Eines ist wichtig: Kondome waren für uns Mittel zum Zweck, um mit den Schwulen in der Szene ins Gespräch zu kommen.
Wie kam das denn an, wenn damals die Aidshilfen in den Kneipen auftauchten und über Sex reden wollten?
Reinhard: Die Reaktionen waren sehr unterschiedlich. Es gab Leute, die sich gar nicht damit beschäftigen wollten. Herzenslust hat damit angefangen, das Verteilen von Kondomen mit lustigen Aktionen zu verbinden. Wir haben Störaktionen in der Szene gemacht, Stehgreiftheater, lustige Geschichten, mit denen wir in Kneipen aufgetreten sind, die bei den Leuten gut angekommen sind. Aber wir haben auch politisch Einfluss genommen. Überall dort, wo Ordnungsbehörden versucht haben, Darkrooms zu schließen oder Saunen einzuschränken, haben wir als Aidshilfe die Einrichtungen unterstützt. So konnten wir die Partnerschaft mit den Betreibern festigen, die uns dann immer unterstützt haben.
Reinhard, in deiner Zeit als Landeskoordinator haben zwei „Ereignisse“ Herzenslust nach vorn gebracht. Ich nenne das Stichwort „Vancouver“ und die Förderung zielgruppenspezifischer Präventionsprojekte (ZSP) durch das Land NRW.
Reinhard: Die ZSP-Förderung ist im Wesentlichen aus dem Erfolg von Herzenslust entstanden. Das Land hat damals festgestellt, dass es mit einem Betrag von einigen Zehntausend Mark nicht getan ist, sondern dass darüber hinaus eine Infrastruktur aufgebaut und unterhalten werden muss, in der Prävention stattfinden kann. Neben der Förderung der Gruppen vor Ort standen für Herzenslust Fachtagungen im Fokus, die verschiedene Bereiche schwuler Lebenswelten thematisierten: „Watch out and dream“ zur Jugendarbeit, „Gay and Grey“ zur Situation älterer Schwuler, es gab einen Sportkongress, einen Künstlerkongress, alles Themen, die dann in die ZSP-Förderung eingeflossen sind. Vancouver (das Aufkommen der Medikamente, mit denen HIV behandelt und das Sterben aufgehalten werden konnte) war insofern wichtig, als dass die enorme Angst vor Aids, die Angst vor Ansteckung und vor allem vor dem Sterben, zurückgegangen ist. Das war eine Erleichterung für alle, weil die Bedrohung nicht mehr da war, wenn wir Prävention gemacht haben.
Olli, du bist Reinhard als Landeskoordinator von Herzenslust nachgefolgt. Wie hast du Herzenslust kennengelernt?
Oliver: Nach meinem Anerkennungsjahr im Gesundheitsamt Köln bewarb ich mich bei der Aidshilfe Bonn im Bereich „Schwule Prävention“. Dass man sich da ab und zu in schrille Kostüme schmeißt und eine ganz andere Arbeit macht als im Gesundheitsamt, war mir anfangs nicht so klar. Mir wurde dann schnell bewusst, dass ich nicht beamtenmäßig ins Bonner Jugendzentrum gehen oder auf dem CSD auftreten kann, sondern eher mit lustigen Aktionen für Aufsehen sorgen muss. Die Leute sollten merken, dass Aidshilfe anders ist.
Ergaben sich in Bonn Veränderungen, die für deine Arbeit wichtig waren?
Oliver: Ja, und das hat mit dem Vorurteil zu tun, die Aidshilfe müsse möglichst viele Infektionen verhindern. Ich dachte, ich mache einen guten Job, wenn die Zahlen sinken. Ich habe gemerkt, dass Aidshilfe viel mehr macht, etwa wenn sie sich um die Gesundheit der Menschen kümmert, die schon HIV haben, dass sie eine Infektion weder als Präventionsspanne noch als persönliches Versagen sieht und dass jeder die Freiheit haben sollte, selbst zu entscheiden, ob und wie er sich schützt. In Bonn hatten wir die Möglichkeit, einen Pornodarsteller als Botschafter für den CSD zu gewinnen, der aber auch in Filmen mitwirkte, in denen es Sex ohne Kondom gab. Ich war unsicher, aber Reinhard versicherte mir, dass Herzenslust dahinterstehe, weil es eine Lebensrealität abbilde, einen Teil schwuler Sexualität, mit der man sich auseinandersetzen könne und müsse.
Was waren zu deiner Zeit bei der Aidshilfe NRW die entscheidenden Herausforderungen in der Prävention?
Oliver: Prävention muss regional unterschiedlich ablaufen, in Siegen ganz anders als in Köln. Die einen hatten eine „Geh-hin-Struktur“, die anderen eine „Komm-Struktur“. Es gab Gruppen, die sind mit lustigen Liedern aufgetreten, andere haben nur diskret Kondome verteilt und bei Bedarf Fragen beantwortet. Herzenslust NRW hat alles gefördert. Als ich im Landesverband begann, war Beratung und Test ein großes Thema. Viele Aidshilfen, die dem Test kritisch gegenüberstanden, mussten ihre bisherige Haltung ändern, um Beratung und Test in ihre Arbeit zu integrieren. Etwa als wir begannen, in einem dafür angeschafften Wohnmobil auf Parkplätzen Tests anzubieten. Im hinteren Teil ein schalldichter Beratungsraum, im vorderen Teil mit drehbaren Sitzen fand die Blutabnahme statt. Trotz Kritik zeigte sich: So wurden neue Zielgruppen erreicht und ein niedrigschwelliges Angebot geschaffen. Diese Erfahrungen flossen später auch in europäische Standards ein – mit aktiver Beteiligung von Herzenslust.
Wie veränderte sich in der Folge die Präventionsarbeit?
Oliver: In der Folge kam Schutz durch Therapie ins Spiel, dann kam die PrEP hinzu, beides neue, forschungsbasierte Präventionsansätze, die gut vermittelt werden mussten, auch intern. Einige in der schwulen Szene sind der offiziellen Prävention immer ein paar Schritte voraus. Dann standen andere Themen im Raum. Nehmen wir Migration und Flucht, gerade die geflüchteten MSM aus dem Nahen Osten, die nach 2015 zu uns kamen, beschleunigten die Entstehung eines Netzwerks im Kontext schwuler und queerer Identität. Weiter zu nennen ist der Bereich Substanzkonsum und Sexualität (Chemsex). Schon immer wurde konsumiert, aber die Formen waren nun neu und stellten uns in der Prävention und in der Ansprache vor große Herausforderungen
Reinhard: Ich möchte kurz erwähnen, dass bereits vor der Jahrtausendwende Herzenslust-Teams an Orten jenseits der Szene, an Parkplätzen oder in Parks, auf beispielsweise türkischstämmige Männer stießen, die sich nicht als schwul bezeichneten, die aber Sex mit Männern hatten. Denen konnte man nicht mit derselben Sprache Safer Sex vermitteln wie in der schwulen Szene.
Marcel, als du die Koordination von Herzenslust übernommen hast, hatte man auf diese Herausforderungen schon reagiert. „Mashallah Welcome“ damals, heute PRADI, war etabliert, man hatte die Zielgruppe von MSM mit Migrationshintergrund im Blick gehabt. Wie habt ihr an dieser Stelle weitergearbeitet?
Marcel: Wir haben den Fokus von der Identität, etwa MSM mit Migrationserfahrung, mehr auf sexuelle Praktiken gelegt. Wir sprachen Männer an, die Oralsex, Analsex oder anderen Sexpraktiken nachgehen, um sie mit Informationen zu versorgen, unabhängig davon, wie sie ihre Identität verorten. Später kam dann das Thema Trans* hinzu, also trans* Männer als Zielgruppe. Zunächst denkt man, da gäbe es keine großen Unterschiede, aber gerade, wenn es um die gesundheitliche Versorgung geht, werden sie vom medizinischen System, aber auch von uns, deutlich schlechter erreicht. Ein Unterschied besteht beispielsweise darin, wie die PrEP eingenommen wird. Hier sind sicher keine eigenen Kampagnen nötig, aber hier und da sind inhaltliche Zusatzinformationen erforderlich, die wir versuchen, immer mitzudenken. Wir haben einmal mit einem trans* Mann gesprochen, der sagte, er finde die PrEP gut, nehme aber weiterhin Kondome, da er nach wie vor schwanger werden könne. Das hat uns gezeigt, dass Verhütung mit Kondomen für trans* Männer eine völlig andere Bedeutung hat als für cis Männer.
Herzenslust nutzte stets aktuelle Medien, von Chatfunktionen zur Beratung bis zu Social Media für Prävention, und passte sich dabei kontinuierlich neuen Entwicklungen an.
Marcel: Die Chat-Beratung ist eine Komm-Struktur, das heißt, Leute müssen sich aktiv an den Gay Health Chat (ein Online-Beratungsangebot der Deutschen Aidshilfe) wenden, um beraten zu werden. Social Media bedeutet, dass wir mit bestimmten Themen rausgehen, so wie Herzenslust vor Ortmit Präventionsbotschaften in die Szene geht. Während früher nur über Veranstaltungen informiert wurde, setzen wir heute eigenständige Inhalte. Das ist erforderlich, weil klassische Szeneorte weniger besucht werden und viele nur noch online erreichbar sind. So erreichen wir auch szenefremde Gruppen. Diese Arbeit ist aufwendig, braucht Fachwissen und sollte eigenständig finanziert werden. Dabei sind andere Akteure, die Präventionsthemen anders und nicht in unserem Sinne behandeln, längst aktiv.
Wie schätzt du den Sprung ein, den Herzenslust mit der Kommunikation von Safer Sex 3.0 gemacht hat?
Marcel: Bei der Entwicklung unserer Safer Sex 3.0 Kampagne war uns wichtig, dass die Botschaften in Hinblick auf Schutz durch Therapie und PrEP ohne Einschränkungen, ohne jedes „Aber“ kommuniziert wurden. Der Fokus lag hier bei HIV. Andere sexuell übertragbare Infektionen spielten bei der Kampagne nur insofern eine Rolle, dass wir unabhängig von der Präventionsmethode regelmäßige STI-Checks empfahlen.
Welche Themen haben Dich bei Herzenslust weiter beschäftigt?
Marcel: Gemeinsam mit Patrick habe ich das Konzept der Sexuellen Bildung angestoßen – bewusst jenseits der klassischen HIV- und Aidsprävention. In Zeiten des „Entdramatisierens“ und der medizinischen Fortschritte wollten wir schwule Sexualität breiter und weniger defizitorientiert betrachten. Dabei geht es etwa um psychische Gesundheit, Diskriminierung oder um sexuelle Praktiken – unabhängig von Infektionsrisiken. Wenn Infektionen relevant sind, greifen wir das mit auf, aber nicht als Hauptthema.
Patrick, du bist ja aus Norddeutschland nach NRW gekommen, wie hast du Herzenslust von außen wahrgenommen?
Patrick: Schon als ich 2009/2010 bei der Aidshilfe in Göttingen aktiv war, habe ich die Arbeit von Herzenslust in NRW mit großem Interesse verfolgt , später auch in Hamburg. Die CSD-Auftritte zum Beispiel hatten eine Strahlkraft weit über NRW hinaus. Man hat immer mit großem Interesse und auch ein wenig Neid nach Nordrhein-Westfalen geguckt. Die bundesweite Kampagne ICH WEISS WAS ICH TU der Deutschen Aidshilfe wäre ohne das Vorbild von Herzenslust kaum denkbar. Als ich 2020 hier zur Aidshilfe NRW kam, wusste ich, dass ich hier auf einem sehr hohen Niveau der MSM-Prävention einsteigen konnte – deutschlandweit einmalig. Gerade lief der zweite Lockdown der Corona-Pandemie. Schon in der ersten Phase 2020 zeigte Herzenslust viel Kreativität: Community-Phone und lokale Interviews als Reaktionen auf den plötzlichen Wegfall direkter Community-Kontakte, und zwar unmittelbar nach dem Auftakt des 25. Geburtstags von Herzenslust. Das war eine Kreativität, die mich sehr beeindruckt und motiviert hat. Im zweiten Lockdown haben wir verstärkt auf Onlineformate gesetzt. Der Gay Health Chat erreichte hohe Zugriffszahlen. Trotz politischer Stimmen, die Sexualität ausklammern wollten, hat Herzenslust klar gemacht: Sexualität bleibt bei den Schwulen ein Thema, auch während der Pandemie. Dann hat Marcel schon die Sexuelle Bildung angedeutet, die uns seit Jahren beschäftigte. Gemeinsam mit den Gruppen vor Ort reflektierten wir, welche Rolle sie in der Prävention spielen kann. Es wurde ein gemeinsames Konzept entwickelt, welches in verschiedenen Formaten umgesetzt werden kann: Online, in Workshops, Beratungen oder vor Ort – stets zielgruppengerecht, flexibel und bedarfsgerecht. Hierbei wurde wieder deutlich, dass Herzenslust es schafft, Theorie praxisnah aufzubereiten und in die konkrete Arbeit vor Ort zu überführen.
Wenn man das alles hört, erschließt sich, dass Herzenslust kein Top-Down-Projekt ist, bei dem hier in der Landesgeschäftsstelle bestimmt wird, wie es zu gehen hat. Ihr bezieht die Leute vor Ort immer mit ein.
Patrick: Das stimmt. Als die PrEP aufkam oder Themen wie HIV-Selbsttest, Sex ohne Kondom bei Nicht-Nachweisbarkeit oder Drogengebrauch im sexuellen Kontext diskutiert wurden, haben wir gemeinsam mit den Kolleg*innen vor Ort nach klaren Haltungen gesucht. Das braucht oft mehr Zeit, als die Community sich dafür nimmt. Aber: Herzenslust gilt vielen als Gütesiegel für Prävention – was wir sagen, hat Gewicht. Daher muss unsere Kommunikation gut durchdacht sein. Ein positives Beispiel war der Umgang mit M-Pox: Wir waren schnell, engagierten uns für die Impfung, organisierten Termine – auch für Gruppen wie männliche Sexarbeiter. Das funktionierte, weil uns viele mehr vertrauen als etwa den Gesundheitsämtern. Anderes dauerte etwas länger. Bei der Doxi-PrEP dagegen haben wir länger gebraucht. Bevor Herzenslust diese empfehlen konnte, haben sich viele schwule Männer die Doxy-PrEP bereits online geordert. Doch gerade wegen des hohen Vertrauens in uns tragen wir auch eine große Verantwortung.
Das heißt mit anderen Worten: Ohne Vernetzung kein Herzenslust?
Reinhard: Für mich war immer entscheidend, aktuelle Entwicklungen schnell aufzugreifen. Das war nur möglich, weil wir gut vernetzt waren: mit der Szene, der Politik und der Wissenschaft.
Oliver: So anstrengend das ständige Nachfragen manchmal war, bin ich überzeugt, dass alle voneinander profitieren konnten: die kleinen Aidshilfen von den großen, die großen von den kleinen und von den mittelgroßen sowieso. Die Herausforderung war immer, unterschiedliche Haltungen ins Gespräch zu bringen, Spannungen auszuhalten und gemeinsame Ansätze zu finden, auch im Wissen, dass nicht die größten oder reichsten Aidshilfen automatisch die besten Ideen haben. Gerade dafür war der persönliche Austausch so wichtig. Auch wenn es sich manchmal wiederholte: Themen entwickeln sich weiter – und die Grundhaltung zählt. Keine Moral aufzwingen, Menschen auf Augenhöhe begegnen, sie auch mal in Ruhe lassen – aber immer gut informieren, damit sie selbst entscheiden können. Auch wenn das nicht allen gefällt.
Patrick: Wir können hier produzieren, was wir wollen, wenn es vor Ort nicht gebraucht wird, landet es im Müll oder bleibt liegen. Natürlich haben wir ein gutes Gespür dafür, was ankommt, aber Rückkopplung mit den Gruppen vor Ort ist entscheidend – bei Materialien genauso wie bei Botschaften. Hier hilft immer wieder in den Kontakt zu gehen, statt nur zu vermuten, was die Szene braucht; lieber nachfragen, auch mit Blick auf unterschiedliche Bedarfe: Was in großen Städten funktioniert, passt nicht automatisch für kleinere Orte. Weil wir das ernst nehmen, werden unsere Materialien auch gerne genommen.
Marcel: Man muss bedenken: Wir machen als Landesverband keine Vor-Ort-Arbeit. Wir können aber wissenschaftliche Entwicklungen beobachten und in die LAG Herzenslust einbringen. Dabei ist wichtig, dass Theorie und Praxis zusammenkommen müssen, aber die Theorie die Praxis nicht dominieren darf. Der Austausch läuft in beide Richtungen, zwischen großen und kleinen Projekten, aber auch zwischen Landesverband und den Kolleg*innen vor Ort. Ohne sie könnten wir unsere Arbeit nicht machen. Deshalb müssen beide Seiten gut finanziert sein, damit echte Synergien entstehen.
Reinhard: Wir haben auch aus vergangenen Fehlern gelernt – etwa bei den Kondomautomaten. Damals dachten wir, jede schwule Kneipe sollte einen haben. Doch ohne enge Abstimmung mit den lokalen Projekten scheiterte das Vorhaben. Kondome müssen verteilt werden oder niedrigschwellig verfügbar sein. Die Automaten wurden kaum genutzt. Im Austausch vorab hätten wir das erkennen können. Wir haben aber daraus gelernt und es bei diesem einmaligen Versuch belassen. Gleichzeitig sind solche Experimente wichtig, sie zeigen, was funktioniert und was nicht.
Welchen Stellenwert hat das Ehrenamt bei Herzenslust?
Reinhard: Das Ehrenamt war für mich immer zentral. Schon bei der Entstehung von Herzenslust spielte es eine wichtige Rolle. An den Runden Tischen saßen vor allem Ehrenamtliche, und wir haben überlegt, wie sie gut eingebunden und von Hauptamtlichen unterstützt werden können. Mit der Zeit hat sich das Ehrenamt gewandelt: Es gab mehr Qualifizierung, und nicht mehr jeder konnte alles machen. Das führte auch zu Enttäuschungen, war aber ein wichtiger Entwicklungsschritt.
Patrick: Das Ehrenamt ist weiter wichtig, aber die Erwartungen haben sich verändert. Heute geht es darum, flexibel zu schauen, wie Ehrenamtliche eingebunden werden können. Dabei müssen sie gut geschult sein – aber nicht alle brauchen das gleiche Wissen. Wer in Kneipen Prävention macht, braucht anderes Know-how als jemand in der Beratung. Die Herausforderung bleibt: Qualität sichern und trotzdem pragmatisch auf neue Formen des Ehrenamts reagieren.
Oliver: Wo „geehrenamtet“ wird, fallen Späne! Ehrenamt erfordert viel Beziehungsarbeit und bringt auch Konflikte und Enttäuschungen mit sich. Trotz großer Wertschätzung durch Politik gibt es kaum finanzielle Mittel, um das professionell zu begleiten. Die Politik schätzt das Ehrenamt so hoch ein, vergibt Preise, lobt Wettbewerbe aus, aber Preise und Lob ersetzen keine nachhaltige finanzielle Unterstützung.
Patrick, ein kurzes Resümee?
Patrick: Wahrscheinlich ist dem Land kaum bewusst, was es für so wenig Geld bekommt. Im Vergleich zu teuren Agenturen zeigen wir mit eigenen Kräften, wie effektiv und kostengünstig Aidshilfe Prävention organisieren kann. Das alles macht Herzenslust mit Recht zu einem bundesweit beachteten, einmaligen Projekt!
Marcel, Olli, Patrick und Reinhard, vielen Dank für das Gespräch und die großartige Arbeit in den letzten 30 Jahren!