
Projektstelle Sexualpädagogik
Sexualpädagogik in der demokratischen Gesellschaft
Die Projektstelle Sexualpädagogik – HIV – STI begleitet das trägerübergreifende Netzwerk Youthwork NRW, um die sexualpädagogische HIV- und STI-Prävention in Nordrhein-Westfalen konzeptionell und strukturell weiterzuentwickeln. In diesem Jahr setzt das Netzwerk sich mit der Frage auseinander, wie der zunehmend offen geäußerten feindlichen Haltung gegenüber marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen in Gesprächen über Sexualität, Liebe, Beziehungen und Selbstbestimmung begegnet werden kann. Lisa Etzold, Projektstelle Sexualpädagogik – HIV – STI im Gespräch mit Matthias Biermann, Youthworker im Lore-Agnes-Haus Essen.
Lisa: Über Sexualität und Selbstbestimmung wurden schon immer politische Kämpfe ausgetragen. Während in den letzten Jahrzehnten Erfolge wie die „Ehe für Alle“, der rezeptfreie Zugang zur „Pille danach“, die Abschaffung des sog. „Werbeverbots“ für Schwangerschaftsabbrüche oder zuletzt das Selbstbestimmungsgesetz erzielt wurden, stößt die offene Ablehnung emanzipatorischer Errungenschaften wieder zunehmend auf gesellschaftliche Resonanz. Das macht sich auch in sexualpädagogischen Schulworkshops bemerkbar. In den vergangenen Jahren berichteten sowohl Lehrkräfte als auch Sexualpädagog*innen von einen Anstieg an vielfalts- und gleichstellungsfeindlichen Äußerungen.
Unterstützen Sie LSBTIQ?
Matthias: Neulich kamen wir für einen Workshop in eine sechste Klasse.“ berichtet Matthias Biermann, Youthworker des Lore-Agnes-Hauses in Essen. „Schon vor der Begrüßung fragten die Schüler*innen, ob wir LSBTIQ unterstützen. Dabei ging es augenscheinlich nicht etwa darum, ob sich queere Personen bei uns im Workshop sicher fühlen konnten. Als wir ausdrückten, dass die Akzeptanz verschiedener Lebensweisen für uns selbstverständlich ist, löste das in der Lerngruppe Widerstände aus. LSBTIQ sind mittlerweile so sehr zum politischen Kampfthema gemacht worden, dass wir mit unserer demokratischen Haltung von manchen Schüler*innen als politische Gegner*innen ausgemacht werden. Eine Abwehrhaltung uns gegenüber erschwert es massiv, die vertrauensvolle und sichere Lernatmosphäre aufzubauen, die es braucht, um sensible Themen wie Safer Sex, Liebe oder Partnerschaft zu besprechen.
Sexualpädagogik als Teil gelebter Demokratie
Lisa: Schulische Sexualpädagogik soll Jugendlichen das Wissen vermitteln, das sie für ein verantwortungsvolles und selbstbestimmtes Sexualleben benötigen. Bereits 1999 wurde in den bis heute in Nordrhein-Westfalen gültigen Richtlinien für Sexualerziehung u.a. das Grundrecht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit als eine Grundlage der schulischen Sexualpädagogik definiert. Sexualpädagogik soll nicht nur sachliche Informationen bieten, sondern auch dazu befähigen, verschiedene Perspektiven einzunehmen. Im Schulgesetz ist ihr Auftrag definiert, die Akzeptanz unter allen Menschen unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung und Identität und den damit verbundenen Beziehungen und Lebensweisen zu fördern. So leistet sie Beitrag dazu, das Grundgesetz mit Leben zu füllen. Im Kontext des politischen Wandels der letzten Jahre kommt diesem Aspekt eine besondere Bedeutung zu.
Spagat zwischen Prävention und Intervention
Matthias: Seit dem Ende der Corona-Pandemie bemerken wir eine abnehmende Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Themen wie Gleichberechtigung oder LSBTIQ sind in den Lebenswelten der Jugendlichen viel präsenter als früher. Während die einen sich sichtbar für Akzeptanz und Vielfalt engagieren, treten die anderen viel vehementer mit ablehnenden bis feindlichen Haltungen in Erscheinung. Das bemerken wir nicht nur in dem Gesprächen mit den Schüler*innen, sondern auch dann, wenn Eltern die Hälfte der Schüler*innen am Workshoptag krankmelden. Es gibt eine zunehmende Skepsis gegenüber der Sexualpädagogik und unseren Inhalten. Das ist auch den Jugendlichen bewusst. Neulich hielt eine Neuntklässlerin in einem Workshop fest: ‚Sex ist jetzt politisch‘. Insgesamt wird es schwieriger, die Schüler*innen mit unseren Präventionsbotschaften zu basalen Themen wie Verhütung oder sexueller Gesundheit zu erreichen.
Lisa: Gerade wenn es um HIV oder andere sexuell übertragbare Krankheiten geht, lassen sich abwertende Meinungen schnell platzieren. Youthworker*innen berichten von offen geäußerten Wünschen, schwule Sexualkontakte zu bestrafen oder von Äußerungen, die die Menschenwürde sexuell aktiver Frauen infrage stellen. Geht es erst einmal um queere Sexualitäten, ist der Weg zu herabwürdigenden Witzen über trans* Personen oder Legitimierung von Gewalt gegen Minderheiten in manchen Fällen nicht mehr weit.
Matthias: Fallen solche Aussagen, sind wir erstmal damit beschäftigt, die sichere Gesprächsatmosphäre aufrechtzuerhalten und gleichzeitig vielfaltsfeindliche Aussagen nicht im Raum stehen zu lassen. Das bedeutet auch: Für die übrigen Inhalte bleibt weniger Zeit und auch der Raum für die Fragen und Themen der restlichen Jugendlichen verringert sich. Wenn wir erst einmal Antidiskriminierungsarbeit leisten müssen, kommt die Auseinandersetzung mit weiteren Kernthemen der HIV- und STI-Prävention zu kurz.
Verstehen statt verurteilen
Lisa: Jüngere Studien zeigen: Jugendliche heute sind sensibilisierter für Diskriminierung und gesellschaftliche Ungleichheiten; sie beziehen politisch deutlicher Stellun, allerdings nicht nur für, sondern auch gegen demokratische Werte. Dennoch sollten vielfaltsfeindliche Äußerungen in sexualpädagogischen Workshops nicht als Abbild gefestigter politischer Haltungen verstanden, sondern in den Entwicklungskontext der Jugendlichen eingeordnet werden. In Pubertät und Adoleszenz finden wichtige soziale, psychische und körperliche Entwicklungsprozesse statt. Jugendliche sind herausgefordert, ein positives Selbstbild, eine eigene Identität und eigene Werte zu entwickeln. Gleichzeitig ist ihr Leben von Abhängigkeiten und auch Fremdbestimmung geprägt. Ein großer Teil ihres Alltags findet in der Schule statt, wo sie einen Umgang mit dem sozialen Druck ihrer Peergroup oder auch Ungleichbehandlung durch Lehrkräfte finden müssen. Das kann die Übernahme menschenfeindlicher Haltungen befeuern.
Es kann diverse Gründe geben, warum Jugendliche sich gegen Vielfalt und Gleichstellung aussprechen. So könnte es für einen Jugendlichen, der gerade seine eigene sexuelle Orientierung hinterfragt und weiß, dass sein Umfeld dafür kein Verständnis hätte, sinnvoll sein, sich von Homosexualität so weit wie nur möglich abzugrenzen und darauf zu bestehen, dass Schwulsein bestraft werden sollte. Auf diese Weise könnte er vermeiden, unter den Verdacht zu geraten, selbst Berührungspunkte mit dem Thema zu haben.
Werden in einer Klasse Witze darüber gerissen, dass eine Vagina vermeintlich ausleiern würde, wenn Frauen Sex haben, wird damit transportiert, dass der Wert einer Frau an ihrer sexuellen Aktivität gemessen würde. Dann könnte es für weibliche Schülerinnen Sinn ergeben, darauf zu bestehen, dass Sex vor der Ehe eine Sünde sei, denn dadurch können sie einen positiven Selbstwert herstellen. Wenn ein Jugendlicher rassistische Diskriminierung erlebt, könnte es sich ungerecht anfühlen, wenn Lehrkräfte sich gegen Queerfeindlichkeit, aber nicht gegen Rassismus engagieren. LSBTIQ abzuwerten, könnte dann eine Strategie sein, die empfundene Ungerechtigkeit zu bewältigen.
Matthias: Im Rahmen des Jahresthemas erarbeiten wir nun Strategien, wie wir daran ansetzen können. Wir wollen die Schüler*innen nicht begrenzen, sondern versuchen, ihre Probleme und Bedürfnisse zu sehen, ihnen Alternativen anzubieten und Reflexionsräume zu ermöglichen.
Sexualpädagogische Angebote können bestehende Defizite nur bedingt kompensieren
Lisa: Schule hat einen demokratiebildenden Auftrag. Sie soll Schüler*innen zur politischen Mündigkeit befähigen, sodass sie unter Achtung der Würde des Menschen in der Lage sein sollen, eigene Überzeugungen zu entwickeln sowie die der anderen zu achten. In diesen Auftrag ist auch die Sexualerziehung fächerübergreifend eingebettet. Die Einbeziehung von Beratungsstellen oder Gesundheitsämtern soll die schulische Sexualerziehung unterstützen, nicht aber zentrale Aufgaben übernehmen. Das spiegelt sich jedoch nicht in den Erfahrungen der Youthworker*innen wider.
Matthias: An uns werden hohe Anforderungen gestellt. Wir arbeiten teilweise in einem feindseligen Klima. Ein konstruktiver Austausch ist manchmal kaum möglich und es ist ein frustrierendes Gefühl, unsere Inhalte nicht im gleichen Maße vermitteln zu können, wie es vor einigen Jahren noch der Fall war. Bevor wir mit der Bearbeitung des Jahresthemas begonnen haben, habe ich mich in eskalierenden Workshopsituationen teilweise ohnmächtig gefühlt. Einen konstruktiven und wirkungsvollen Umgang mit vielfaltsfeindlichen und diskriminierenden Aussagen zu finden, ist eine Herausforderung, von der Kolleg*innen, professionelle und erfahrene Fachkräfte, landesweit und über unterschiedliche Schulformen und Altersgruppen hinweg berichten. Wir wollen die Jugendlichen ja mit unseren Inhalten erreichen. Oft stehen uns zusätzlich die Schulen mit einer hohen Erwartungshaltung gegenüber. Wir erleben, dass unsere Themen kaum vor- oder nachbereitet werden, obwohl das Aufgabe der Lehrkräfte wäre. Wir stoßen auf Lücken in der Demokratiebildung, die wir in drei Stunden Workshop nicht füllen können.
Eigentlich bräuchte es längerfristige Formate wie Projektwochen oder eine regelmäßigere Zusammenarbeit, denn durch gelungene Beziehungsarbeit könnten wir Jugendliche auch unter Gegenwind ansprechen und erreichen. Dafür fehlen finanzielle und zeitliche Ressourcen – sowohl bei den Schulen als auch bei uns. Ich bin froh, dass wir mit dem Jahresthema nun zumindest Ansatzpunkte gefunden haben, um in diesem Spannungsfeld trotzdem handlungsfähig zu bleiben.
Qualitätsentwicklung braucht nicht nur Ressourcen, sondern auch Resilienz
Lisa: Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Sexuelle Bildung, das sich aus dem Grundgesetz sowie dem Bildungsauftrag der Schulen ableitenlässt. Um ihnen Zugang zu wichtigen Bildungsinhalten und Reflexionsräumen zu ermöglichen, braucht es mittlerweile jedoch mehr als nur fachliche Kompetenzen.
Matthias: Wenn uns dann noch Aggressionen und Hass entgegenschlagen, geht es auch darum, die restlichen Schüler*innen und ebenso uns selbst zu schützen. Da braucht es Deeskalationsfähigkeiten und Bewältigungsstrategien. Darüber hinaus müssen wir uns zunehmend Kenntnisse aus anderen pädagogischen Arbeitsfeldern aneignen. Wir müssen uns mit Aspekten wie veränderten medialen Lebenswelten und dazugehörige Algorithmen bis hin zu menschenfeindlichen Ideologien und Prozessen politischer Radikalisierung auseinandersetzen. Wir müssen klar haben, wann unsere fachlichen, aber auch persönlichen Grenzen erreicht sind. Manchmal ist es notwendig, Teilnehmende aus dem Workshop zu werfen, um der restlichen Gruppe ihr Recht auf Sexuelle Bildung zu ermöglichen. Das kann sich im ersten Moment nach Versagen anfühlen. Um dieses Spannungsfeld zu navigieren, braucht es nicht nur Zugänge zu Fachwissen, sondern auch Räume für fachlichen Austausch, kollegiale Fallreflexion, gemeinsame Haltungsentwicklung und gegenseitige Unterstützung. Durch unsere trägerübergreifende Vernetzung sowie die Begleitung durch die Projektstelle haben wir hier in NRW eine wirksame Struktur zur sexualpädagogischen Qualitätsentwicklung.
Mit der Arbeit am Jahresthema „Sexualpädagogik in der demokratischen Gesellschaft“ ist ein wichtiger erster Schritt geleistet, um unsere jugendlichen Zielgruppen weiterhin lebensweltnah ansprechen und erreichen zu können. Nun wird es darauf ankommen, politischen und gesellschaftlichen Rückhalt sowie ausreichend finanzielle Ressourcen zu sichern, sodass wir weiterhin qualitativ hochwertige und bedarfsgerechte Sexuelle Bildung für Jugendliche bieten können.“
Lisa: Bis Ende des Projektjahres erarbeitet die Projektstelle der AG Aidsprävention gemeinsam mit den Youthworker*innen eine Sammlung mit konkreten Handlungsideen im Umgang mit vielfalts- und gleichstellungsfeindlichen Äußerungen in sexualpädagogischen Workshops.
Weitere Infos zu Youthwork finden sich unter youthwork-nrw.de.